von Richard Schoutissen | Stichting Oorlogsslachtoffers | 26. januar 2022

Julius Dettmann
Julius Dettmann Signature

Die jährlich wiederkehrende Bestürzung und negative Publizität über den Volkstrauertag auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Ysselsteyn und die zum Teil verständlichen Reaktionen über die SS’ler, Kollaborateure und Kriegsverbrecher haben uns dazu bewogen, über eine der meistdiskutierten Personen aus dieser Gruppe von Kriegstoten zu recherchieren, die auf diesem besonderen Friedhof ihre letzte Ruhestätte hat … Julius Dettmann.

Dettmann ist als der deutsche Offizier des Sicherheitsdienstes bekannt, der am 4. August 1944 angeblich telefonisch einen Hinweis von dem mutmaßlichen Verräter von Anne Frank und den sieben anderen Personen erhielt, die sich im Hinterhaus des Grachtenhauses in der Prinsengracht 263 in Amsterdam versteckt hielten. Im Internet sind nur wenige Informationen über Julius Dettmann zu finden, geschweige denn darüber, wie er tatsächlich aussah. Auf einigen Websites wird zum Beispiel das Foto eines deutschen Jagdfliegers fälschlicherweise mit seinem Namen angezeigt. Durch unsere Nachforschungen versuchen wir, Ihnen als Besucher unserer Website mehr Informationen und ein Gesicht zu einer der meistgehassten Personen in den Niederlanden während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu geben.

◁ Julius Dettmann | © Stichting Oorlogsslachtoffers

Julius Dettmann wurde am 23. Januar 1894 in Ponarth, einem Stadtteil der damaligen ostpreußischen Hauptstadt Königsberg-Preußen (heute Kaliningrad, Russland), geboren. Er wurde als Sohn des Transportunternehmers Friedrich Dettmann und der Bertha Dettmann, geborene Lenzner, geboren. Julius wurde von seinen Eltern getauft und evangelisch erzogen.

Vom 6. bis 14. Lebensjahr besuchte Dettmann die Volks- und Hauptschule in seiner Heimatstadt, bevor er 1908 in einem Tuchgeschäft in Königsberg-Preußen als Verkäuferlehrling anfing. Nach Beendigung seiner Lehre im Jahr 1912 arbeitete Julius als Kaufmann für verschiedene Unternehmen. Im Oktober 1914 meldete sich Dettmann freiwillig für zwei Jahre zum 1. Ostpreußischen Feldartillerie-Regiment Nr. 16 in Königsberg. Im Juni 1914 wurde er an die Feldartillerieschule in Jüterbog versetzt, mit der er auch ins Feld ging. Nachdem Dettmann ein Jahr lang mit dieser Truppe am Feldzug teilgenommen hatte, wurde er zur Flakeinheit versetzt, wo er bis zum Ende des Ersten Weltkriegs blieb. Während des Ersten Weltkriegs wurde er zum Gefreiten und später zum Vizewachtmeister befördert. 1918 wurde Dettmann aus der Armee entlassen. Im Januar 1919 kehrte Dettmann zu seiner alten Einheit in Königsberg zurück und wurde im März 1919 der Militärischen Polizeistelle zugeteilt. Nachdem diese Einheit im Oktober 1919 in die Landesgrenzpolizei umgewandelt worden war, wurde Dettmann in den Polizeidienst übernommen und gleichzeitig endgültig aus dem Heeresdienst entlassen.

Julius Dettmann war Träger des Ehrenkreuzes des Weltkrieges und des Eisernen Kreuzes 2. Klasse. Mit seinen 1,74 Metern war er recht sportlich, er erhielt das SA-Sportabzeichen in Bronze der Sturmabteilung, das Reichssportabzeichen in Bronze sowie das Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft Abzeichen in Bronze.

Am 23. April 1920 heiratete Dettmann, inzwischen im Rang eines Grenzpolizeiwachtmeisters, die am 3. Mai 1896 ebenfalls in Königsberg geborene Auguste Marie Gertrud Goß, Tochter des Beamten Hermann Goß und seiner Frau Auguste Goß, geborene Funk. Aus dieser Ehe ging ein Sohn namens Frank Julius hervor, der am 29. März 1921 in Königsberg geboren wurde. Während seiner Tätigkeit bei der Kriminalpolizei wurde Dettmann mehrfach versetzt; seine letzte Versetzung vor Beginn des Zweiten Weltkriegs erfolgte am 1. Mai 1934 von der Kriminalpolizei Wuppertal zur Landespolizei Koblenz. Am 2. Januar 1936 zog die junge Familie in ein Haus in der Schwerzstraße 5 in Koblenz.

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Julius Dettmann telephone book

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So ist Julius Dettmann unter der oben genannten Adresse im historischen Telefonbuch von Koblenz zu finden, allerdings mit folgender Schreibvariante: „Dittmann, Julius, Kriminalbezirkssekretär“, in einer späteren Ausgabe (1939-1940) wurde der Nachname korrekt geschrieben: „Dettmann, Julius, Kriminalsekretär“.

Julius Dettmann telephone book
▵ Einwohnerbuch für Stadt- und Landkreis Koblenz | Stichting Oorlogsslachtoffers

Das Haus in der Schwerzstraße 5 in Koblenz lag gegenüber dem jüdischen Friedhof „Rauental“, der in der Kristallnacht (in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938) zerstört wurde. Die Grabsteine wurden während der NS-Zeit für den Bau einer Treppe im Garten eines Kindergartens in Koblenz-Lützel sowie für das nationalsozialistische Mutterhaus in Koblenz verwendet. Die zwischen 1938 und 1942 verstorbenen und in Koblenz begrabenen Juden durften während der NS-Zeit keinen Grabstein erhalten.

Um seine arische Abstammung zu beweisen, benötigte Dettmann dringend die Geburtsurkunde des 1872 verstorbenen Schuhmachermeisters Adolf Linzer, seines Großvaters mütterlicherseits, und wandte sich am 28. Juli 1939 schriftlich an das katholische Pfarramt in Schippenbeil (heute Sępopol, Polen). Der Geburtsort seines Großvaters ist jedoch weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche verzeichnet; es heißt, er sei aus Salzburg eingewandert. In der kleinen SS-Ahnentafel steht, dass Julius‘ Großvater väterlicherseits ein uneheliches Kind war, im Kirchenbuch bei der Geburt des Kindes wird der Vater nicht erwähnt.

Am 1. Oktober 1939 wurde Dettmann Mitglied der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) unter der Nummer 7220240 und erhielt den Posten eines Kriminal-Obersekretärs. Seine Frau Gertrud wurde Mitglied der NSF NS-Frauenschaft und der NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt. Am 15. Dezember 1941 trat Julius Dettmann unter der Nummer 414783 in die Schutzstaffel (SS) ein. Gleichzeitig wurde er zum SS-Untersturmführer befördert und auf Anordnung des Reichssicherheitshauptamtes der Stapo-Leitstelle Posen (heute Poznań, Polen) zugeteilt. Am 10. April 1940 zog die Familie Dettmann in ein Haus in der Ackerstraße 17 in Posen, und am 9. November 1942 wurde Julius Dettmann erneut befördert, diesmal zum SS-Obersturmführer (Oberleutnant).

Julius Dettmann | © Stichting Oorlogsslachtoffers ▷
Julius Dettmann

Leider ist es aufgrund des großen kriegsbedingten Verlustes von Unterlagen nicht ungewöhnlich, dass in den Archiven keine oder nur wenige Hinweise auf einzelne Soldaten zu finden sind; es bleibt unklar, wo, wann und welche weiteren Funktionen Dettmann innehatte.

Schließlich wurde Dettmann 1943 zunächst nach Den Haag von dort aus nach Amsterdam versetzt, seine letzte bekannte Wohnadresse war die Cliostraat 65 in Amsterdam, nur wenige Gehminuten von seinem neuen Arbeitsplatz in der damaligen Euterpestraat 99 entfernt, in seiner Akte steht jedoch „Gestapo, Apollolaan 99“. Über Kriminalinspektor, SS-Obersturmführer Julius Dettmann gibt es eine Reihe von Zeugenberichten über seine Zeit in den Niederlanden. In diesen Berichten wird er als „mutig, aber ein unglaublicher Tyrann und Sadist“ beschrieben. So schlug er beispielsweise als Vergeltung für den tödlichen Angriff auf SS-Sturmscharführer Ernst Wehner seinem Vorgesetzten vor, die 15 Verhafteten dieser Aktionen nicht durch ein Erschießungskommando, sondern durch einen Genickschuss hinzurichten, was Dettmann aufgrund seiner früheren Erfahrungen mit dieser Hinrichtungsmethode in Polen für effektiver hielt. Darüber hinaus hatte sich Dettmann freiwillig gemeldet, um diese Hinrichtungen am 16. Juli 1944 in den Dünen von Overveen durchzuführen.

Dettmann hatte eine führende Position im Judenreferat IVB4 der Gestapo in Amsterdam, der niederländischen Abteilung des Reichssicherheitshauptamts in Berlin. In der Außenstelle Amsterdam des Befehlshabers der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes hätte Dettmann, wahrscheinlich am Morgen des 4. August 1944, einen telefonischen Hinweis auf jüdische Versteckpersonen in der Prinsengracht 263 erhalten. Anschließend hätte Dettmann seinem Untergebenen, SS-Hauptscharführer Karl Josef Silberbauer, befohlen, das angebliche Versteck zu durchsuchen. Dies führte zur Verhaftung von acht jüdischen Untergetauchten, darunter Anne Frank, ein jüdisches Mädchen, das zu diesem Zeitpunkt „unbekannt“ war…

Nachstehend eine Sendung von Radio-Oranje und das Oranje-Bulletin Nr. 19 vom Samstag, 28. Oktober 1944. Veröffentlicht als Reaktion auf die von der Gestapo in der Nacht vom 23. auf den 24. Oktober 1944 begangenen Morde als Vergeltung für das tödliche Attentat auf einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes, Herbert Gottlob Felix Oelschlägel, am selben Tag.

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Obwohl die deutsche Besatzungsmacht am 5. Mai 1945 kapitulierte, gab es bei den Befreiungsfeiern am 7. Mai rund um den Amsterdamer „de Dam“ Tote und Verletzte, als bewaffnete deutsche Soldaten das Feuer auf die Menschenmenge eröffneten, die die Befreier begrüßen wollte. Nach der Befreiung kam es in Amsterdam zu Massenverhaftungen von Personen im deutschen Militär- und Verwaltungsdienst, von Kollaborateuren und allen, die im Verdacht standen, den Besatzern zu helfen.

Am 11. Mai 1945 wurde Julius Dettmann verhaftet und blieb als Kriegsgefangener unter der Nummer „C 29“ im „House of Detention II“ in der Havenstraat 6 in Amsterdam, bis er sich am 25. Juli 1945 gegen 04.00 Uhr morgens im Alter von 51 Jahren durch Erhängen in seiner Zelle das Leben nahm. Einige vermuteten, dass der Selbstmord durch Erhängen inszeniert wurde, um die mögliche Ermordung des verhassten SS-Mannes zu vertuschen, was jedoch nie bewiesen wurde.

Julius Dettmann Oranje-Bulletin

Aufgrund seines eigenen Todes konnte Julius Dettmann nie zu dem oben erwähnten Überfall auf das geheime Nebengebäude in der Prinsengracht 263 befragt werden. Die Antwort auf die Frage, wer die Menschen im Anhang verraten hat, könnte daher für immer unbeantwortet bleiben. (*mehr dazu weiter unten) Am 31. Juli 1945, um ca. 08:42 Uhr, wurde Dettmann auf dem Noorderbegraafplaats in Amsterdam beigesetzt (Klasse 5, Sektion 10, Reihe X, Grab 3). Elf Jahre später, am 17. August 1956, wurden die sterblichen Überreste durch den Bestattungsdienst des Regiments Intendancetroepen der Königlichen Niederländischen Armee exhumiert und zu ihrer letzten Ruhestätte auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Ysselsteyn (L) überführt und am 30. August 1956 umgebettet (Feld AJ, Reihe 10, Grab 228).

Julius Dettmann Exhumation
Julius Dettmann Grave

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Ehefrau Gertrud und Sohn Frank Julius zogen nach dem Krieg, am 23. April 1946, nach Recklinghausen und bezogen ein Haus in der Königstraße 20. Als die Briten 1946 das Land Nordrhein-Westfalen gründeten, wurde Frank Julius bei einem Bergamt dieses Landes als Lehrling für die Ausbildung zum Fachmann für Entminung angemeldet. Am 1. Januar 1949 zog Frank Julius nach Schaalby in Schleswig-Holstein, wo er als Dolmetscher arbeitete. Laut Melderegister der Gemeinde Schaalby meldete sich Frank Julius Dettmann am 12. Mai 1953 ab und zog nach Hollingstedt in Schleswig-Holstein, seine letzte bekannte Adresse ist Ansgarweg 8..

Gertrud Dettmann starb am 8. September 1964 in Recklinghausen, sie wurde am 10. September 1964 um 11 Uhr auf dem Zentralfriedhof Hillerheide in Recklinghausen in einem Reihengrab (Reihe 8, Grab 5, für Erwachsene) bestattet. Frank Julius Dettmann starb am 13. Juli 1996 in Hollingstedt, seine Urne wurde am 22. September 1996 auf dem Hollingstedter Friedhof der Ev.-Luth. Kirche von Hollingstedt (Feld/Reihe E07, Grabnummer 11). Am 11. Oktober 2012 wurde die Urne seiner Frau Helga Maria Dettmann (*27. November 1920 †22. September 2012) im selben Grab beigesetzt.

Update: Im Laufe der Recherche konnte ich Kontakt zu den Angehörigen von Julius Dettmann aufnehmen. Obwohl den nächsten Angehörigen bestimmte Aspekte seiner Vorkriegs- und Kriegsarbeit nicht vollständig bekannt waren, wurde mir eine Kopie der maschinengeschriebenen Autobiographie von Frank Julius Dettmann (Sohn von…) anvertraut, um eine einigermaßen ausgewogene Geschichte zu liefern. Frank Julius Dettmann war Realschulrektor und verfaßte diese als Pensionär.

Am Rhein, am Rhein, am schönen Rhein 

Die Zeit meiner Jugend, an die ich die stärksten Erinnerungen habe, habe ich in Koblenz am Rhein verbracht. 

Mein Vater war versetzt worden, und zwar war das eine Folge seiner Tätigkeit als Grenzpolizeibeamter in Serrig. Sein ehemaliger Chef in Trier war nun in Koblenz mit dem Aufbau einer neuen Dienststelle beauftragt worden und entsann sich seines früheren Mitarbeiters Dettmann. 

Aufgebaut wurde seiner Zeit die Geheime Staatspolizei, jene politische Polizei, die dann in der Geschichte unseres Volkes so eine unrühmliche Rolle spielen sollte. Für meinen Vater war das damals, soweit ich das als Junge mitbekommen hatte, eine gute Chance, durch die er sowohl mehr verdienen als auch befördert werden konnte. 

Vater war Enddreißiger, so in den Jahren, in denen ein Mann sich über seinen weiteren Lebensweg, seine beruflichen Aussichten im klaren wird und in dem Alter, wo man gemeinhin versucht, weiterzukommen und die Lebensqualität, soweit man sie selbst beeinflussen kann, zu verbessern. 

Aus Erzählungen weiß ich, daß Vater als jüngstes von vier Kindern aufwuchs. Der Altersunterschied zu seiner ältesten Schwester betrug fast 10 Jahre, zu seiner jüngsten immerhin noch fünf. Er war also das Nesthäkchen und ist als solches wohl auch sehr verwöhnt worden. Seine Mtter war bei seiner Geburt 35 Jahre, sein Vater fünf Jahre älter. Da ist es verständlich, daß seine beiden Schwestern sich viel um ihn gekümmert haben und von ihm eigentlich immer als von „unserem Julemann“ redeten. 

Er hat wohl dann die Volksschule besucht, Kaufmann gelernt und ist zum Militär eingezogen worden. Gedient hat er bei der Artillerie, und ich weiß noch Bilder zu erinnern, auf denen er hoch zu Roß zu sehen war. 

Den ersten Weltkrieg, da war er beim Ausbruch desselben gerade zwanzig Jahre alt, hat er von Anfang bis Ende mitgemacht. Er war Vize-Wachtmeister, was wohl so etwas wie Feldwebel war. Von seinen Kriegserlebnissen sprach er nie. Er war ausgezeichnet worden mit dem Eisernen Kreuz, soviel ich weiß, nicht verwundet und auch nicht in Gefangenschaft gewesen. 

Nach dem Krieg muß er sich wohl bei der Polizei beworben haben, jedenfalls ist er auf der Polizeischule in Sensburg in Ostpreußen gewesen. Seine beruflichen Stationen waren dann Königsberg/Pr., Serrig, Solingen, Koblenz, Posen, Bielefeld und die Niederlande. Zunächst tat er Dienst bei der Grenzpolizei, dann bei der Kriminalpolizei und war seit 1934 etwa bis zu seinem Freitod 1945 bei der Gestapo, zuletzt als Kriminalinspektor. 

Ich erinnere ihn als einen warmherzigen, sein Innen-leben nicht zur Schau tragenden, sehr konsequenten Menschen, der nach seiner Sturm- und Drangzeit ein Familienvater war, der in seiner Familie aufging, der die häusliche Gemütlichkeit und ein gutes Essen liebte, mäßig rauchte – Zigarren und gelegentlich mal ein Pfeifchen – Alkohol nur sehr selten und dann mäßig zu sich nahm. Ich weiß nur einmal ihn berauscht gesehen zu haben – und da gab er sich noch gemütlicher, als er ohnehin schon war. 

Er hing wohl mit grober Liebe an seinem Jungen und von meiner Mutter weiß ich, daß er sich darauf freute, einmal eine Schwiegertochter und Enkelkinder zu haben. Sein früher Tod hat diesem Wunsch keine Erfüllung gegeben. 

Zu seiner Lieblingsbeschäftigung gehörte es zu lesen. Gemütlich zu Hause im Sessel sitzend, in unserer Serriger Zeit auch noch die Katze auf seiner Schulter sitzend, ein Buch vor der Nase, so habe ich ihn in Erinnerung. Handwerklich war er völlig unbegabt. Einen Nagel in die Wand zu schlagen, gelang ihm eigentlich nur, wenn er den Daumen als Zielscheibe über den Nagelkopf hielt. Von Statur war er groß und entsprechend seiner Vorliebe für gutes Essen ziemlich füllig. Bei etwa 178 cm Größe waren 200 Pfund Gewicht nicht zu übersehen. Erst später, als er so über vierzig war, wurde er dank seiner gesundheitsbewußten Frau und dem allgemeinen Trend, Sport zu treiben, was er dann auch aktiv tat – Leichtathletik, Schwimmen, Radfahren – schlanker. Für Sport hatte er ohnehin eine Ader, hatte als junger Mann aktiv Fußball gespielt und als Schiedsrichter fungiert. Als Mittvierziger erfüllte er die Bedingungen des Goldenen Sportabzeichens, und die waren damals härter als heute. Mußte man doch in jeder Altersstufe die gleichen Leistungen erbringen; Bronze gab es ab 18 Jahren, Silber ab 32 und Gold ab 40. Da war es schon eine Leistung mit über vierzig Jahren nach jahrzehntelanger Pause wieder anzufangen und die gleichen Bedingungen wie ein Achtzehnjähriger zu erbringen !

Fernsehen war zu jener Zeit noch unbekannt. Das Radio wurde erst so richtig volkstümlich. So weiß ich noch, daß wir in Solingen oder gar erst in Koblenz unser erstes Radio zu Hause bekamen. Vom Fernsehen sprach man, aber niemand kannte es, und meinem Vater ging das über sein technisches Verständnis. Er pflegte zu sagen, daß ihm die Übertragung der Hörfunkwellen und ihr Empfang noch einigermaßen klar sei, wie man jedoch sich bewegende Bilder über weite Strecken transportieren wolle, das könne er sich nicht vorstellen. Über den politischen Standort meines Vaters kann ich nichts sagen. Einmal war ich bis zum Beginn der Nazizeit noch zu jung, um über Politik nachzudenken, zum zweiten scheint mir wurde – jedenfalls in meinem Elternhaus – über Politik wenig gesprochen. 

Ich weiß, daß mein Vater relativ spät in die NSDAP (National-Sozialistische-Deutsche-Arbeiter-Partei) eintrat, so etwa 1939, bei Kriegsbeginn. Da konnte er sich dem wohl als Beamter und noch dazu als einer der politischen Polizei nicht mehr widersetzen. Seine Uniform als SS-Führer erhielt er viel später, als er in Posen eingesetzt wurde. Da war schon Krieg. Per Gesetz wurde eine Gleichschaltung von Polizei und SS verfügt. Der Reichsführer SS (Heinrich Himmler) wurde gleichzeitig „Chef der deutschen Polizei“. 

So wurde mein Vater, den ich am zutreffendsten als politisch abstinent kennzeichnen möchte, eigentlich ohne Zutun gleich Mitglied von zwei sehr abenteuerlichen Einrichtungen der Nazizeit, die dann auch beide nach dem Kriege von den Alliierten als verbrecherisch eingestuft wurden, der Gestapo und der SS. 

Das klingt alles ganz furchtbar, denn wer Mitglied einer Verbrecherorganisation ist, muß logischerweise ein Verbrecher seine Und wer sagt gerne von sich, daß er der Sohn eines Verbrechers ist. 

Das ist natürlich alles eine Interpretationssache. Im Laufe der Zeit wurde dann auch von Juristen und Politikern der Begriff verbrecherische Organisation so ausgelegt, daß man damit die Institution und nicht zwangsläufig alle ihre Angehörigen bezeichnen wolle. Deutschland hätte sonst auch im Jahre 1945 zumindest zu einem großen Teil aus Verbrechern bestanden. 

Aber zum Rückblick gehört die historische Wahrheit. Die Menschen, die nach dem Kriege geboren wurden, können ohnehin keine Werturteile abgeben, denn ohne die aus dem Erleben dieser Zeit geborene Kenntnis spricht man wie „der Blinde von der Farbe“. 37 Jahre nach dem Lade dieser schrecklichen Zeit wissen die noch Lebenden, daß Schuldzuweisungen nur subjektiv sein können, und daß die Deutschen der Nazizeit in ihrer Gesamtheit weder schlechter noch besser als die Menschen vor oder nach ihnen waren. Wie schwierig es ist, über jemandes innere Einstellung zu urteilen, zeigt sich heute an der Prüfung der Wehrpflichtverweigerer. 

Ich habe meinen Vater gerngehabt, ich habe ihn geachtet und ehre sein Andenken, denn ich weiß, er hat nichts Böses getan. 

Vieles habe ich von ihm als Erbe, nicht nur die Größe, auch die wenig ausgebildeten handwerklichen Fertigkeiten, ein gewisses Streben, einen gesunden Haushaltssinn und vielleicht auch ein bißchen Realitätsbezogenheit. 

Update, Autobiographie Frank Julius Dettmann

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*Überrascht von der kürzlich veröffentlichten fünfjährigen Untersuchung eines internationalen Cold-Case-Teams über den Verrat an Anne Frank und den sieben anderen Personen, die sich im Hinterhaus versteckt hielten, beschloss ich, vor der Veröffentlichung dieses Artikels das betreffende Cold-Case-Team (bestehend aus Polizeibeamten, Historikern und anderen Fachleuten) zu kontaktieren, um zu fragen, ob auch eine detaillierte Untersuchung über Julius Dettmann oder seine überlebenden Verwandten durchgeführt worden war.

Über den Leitender Forscher, Pieter van Twisk, erhielt ich die folgende Antwort.

„The familie of Julius Dettmann was not approached. The reason why we did not pursue this lead was simple: Dettmann never returned to Germany and committed suicide (or was killed) on the 25th of June 1945 while in prison. At that time the Anne Frank arrest was just another arrest among many. We do not think that he had time, opportunity nor the motive to send files home or talk to relatives about this case.“

(Die Familie von Julius Dettmann wurde nicht kontaktiert. Der Grund, warum wir diese Spur nicht verfolgt haben, ist einfach: Dettmann kehrte nie nach Deutschland zurück und beging am 25. Juni 1945 in der Haft Selbstmord (oder wurde ermordet). Zu dieser Zeit war die Verhaftung von Anne Frank nur eine von vielen Verhaftungen. Wir glauben nicht, dass er die Zeit, die Gelegenheit oder das Motiv hatte, Akten nach Hause zu schicken oder mit Angehörigen über den Fall zu sprechen.)

Die obige eindeutige und zugleich beunruhigende Antwort des Cold Case Teams, das seine Ermittlungen abgeschlossen hat, ohne weitere historische Nachforschungen über einen der möglichen Protagonisten anzustellen, und zwar allein aufgrund der Annahme des Cold Case Teams, dass Dettmann keine Zeit, keine Gelegenheit und kein Motiv hatte, Akten nach Hause oder anderswohin zu schicken, zeigt meiner Meinung nach, dass weitere historische Nachforschungen erforderlich sind. Das Cold-Case-Team stützt seine Theorie hauptsächlich auf die Kopie eines anonymen Briefes, den Anne Franks Vater 1945 erhalten haben soll.

Die gesammelte Akte von Julius Dettmann mit einer Vielzahl von Dokumenten und Fotos (auf dieser Seite nicht veröffentlicht) ist beim Autor zur Einsichtnahme erhältlich.

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